Abschieds-Interview

"In Wien liebt man vor allem große Stimmen"

Dominique Meyer hat zehn Jahre lang die Wiener Staatsoper geleitet. Im "Presse"-Gespräch erinnert er sich an große und dramatische Momente mit Beczaa, Netrebko und Keenlyside - und erklärt, wie er "sein" Ensemble geführt hat.

Die Presse: Wenn Ihre Direktionszeit Revue passieren lassen, erinnern Sie sich an einen besonderen Glücksmoment?

Dominique Meyer: Was mir sofort einfällt, ist zum Beispiel der Applaus nach der Premiere von Berlioz' "Trojanern". Das war nicht selbstverständlich - und ein Moment, in dem ich meine Leidenschaft für ein Stück mit dem Publikum teilen konnte. Beglückend war auch der Beifallssturm, der nach der Premiere von Janaceks "schlauem Füchslein" über Otto Schenk hereinbrach, der nach Jahren zurückkehrte.

Und im Repertoire?

Auch da gibt es viele Erinnerungen. Sehr viele. Oft ganz intime Momente; zum Beispiel, wenn unser Soloklarinettist, der Ernst Ottensamer, die Frühstücksszene im "Rosenkavalier" so köstlich gespielt hat.

Gab es auch schöne Momente, die Sie nicht mit dem Publikum teilen konnten?

O ja, zum Beispiel, als ich während einer Orchesterprobe ganz allein im Saal war und Piotr Beczaa zum ersten Mal "E lucevan le stelle" gesungen hat!

In Ihrer Ära fanden immer wieder solch spektakuläre Debüts statt . . .

Ja. Aber ich denke, das wird ein wenig überbewertet. Was ist am Ende wichtiger - ein Debüt aufs Plakat zu schreiben oder dass es eine außergewöhnliche Vorstellung gibt?

Gab es spektakuläre Debütpläne, die dann nicht realisiert werden konnten?

Nur insofern, als ich zum Beispiel Anna Netrebko gebeten hatte, die Adriana Lecouvreur bei uns zu singen - und sie meinte, sie würde das gern vorher ein paarmal in St. Petersburg ausprobieren. Das hat sie dann gemacht. Vielleicht waren die Vorstellungen in Wien dann gerade deshalb besonders gut.

Da muss ein Theaterdirektor wohl agieren wie ein Familienvater. Wie war das, wenn jemand aus dem Ensemble debütierte?

Wenn ein junges Ensemblemitglied einspringen muss, um eine Vorstellung zu retten - zum Beispiel Anita Hartig als Mimi in "La Boheme" -, da sind die Nerven zum Zerreißen gespannt. Ich sehe noch vor mir, wie sich Hartig und Valentina Nafornita, die damals die Musette war, nach der Vorstellung glücklich um den Hals gefallen sind und beide geweint haben.

Wie muss denn ein Ensemble geführt werden, damit so etwas möglich wird?

Das ist ein bisschen so wie bei der Netrebko und ihrer Adriana. Man muss den Ensemblemitgliedern auch die Möglichkeit geben, zu gastieren und sich auf große Partien vorzubereiten. Im Fall Anita Hartigs war es so, dass ich ihr sofort Urlaub gab, als sie das Angebot bekam, als Mimi in Brüssel zu debütieren. Sie wusste also schon, dass sie die Partie wirklich beherrschte, als sie bei uns dann eingesprungen ist. Was die Arbeit in Wien betrifft, haben wir mit Thomas Lausmann, dem Chef unserer Korrepetitoren, und Sabine Hödl in der Direktion unschätzbare Stützen, die sich um die jungen Künstler kümmern.

Wobei die Pianisten mit den Sängern musikalisch arbeiten. Was macht das Betriebsbüro?

Man setzt die Jungen erst einmal in kleinen Partien ein. Wenn eine sehr gut ist, wird sie von der Modistin im "Rosenkavalier" zur Papagena in der "Zauberflöte" und dann bald zum Oscar im "Ballo in maschera". So war es bei Valentina Nafornita, zum Beispiel.

Sie haben sich ja genau so intensiv um das Ballett gekümmert.

O ja. Da erinnere ich mich auch, wie das war, als ich das erste Mal bei einer Ballettvorstellung vor den Vorhang gehen musste, um eine Ansage zu machen. Das war in der Premiere von "Schwanensee". Olga Esina hatte sich im Dritten Akt an der Wade verletzt, war aber der Meinung, sie würde den vierten Akt tanzen, und sagte: "Da wird zu neunzig Prozent das andere Bein strapaziert." Verrückt. Sie hat es bravourös geschafft! So etwas vergisst man nicht.

Gab es auch negative Erlebnisse, die Sie in Ihre Albträume verfolgen?

Ja, apropos Ansage: Der Moment, als Simon Keenlyside eine Ader in einem Stimmband platzte und er während der "Rigoletto"-Premiere abging. Die Vorstellung wurde live übertragen. Ein Desaster! Aber vor allem war da die Angst um seine Gesundheit!

Auch da hat ja dann ein Ensemble-Mitglied, Paolo Rumetz, die Premiere gerettet - und Keenlyside kam nach seiner Pause gern wieder ans Haus zurück. Abgesehen von solchen Pannen: Gibt es etwas, was Sie anders machen würden, wenn Sie von vorn noch einmal beginnen würden?

Ein Fehler, den ich gemacht habe: Ich habe schon vor Amtsantritt nicht nur gesagt, dass mir das Ensemble wichtig sein würde, sondern dass ich daran dachte, das Mozart-Ensemble wieder aufzubauen.

Was war daran falsch?

Das Problem bei solchen Ansagen ist, dass die Leute glauben, so etwas würde dann über Nacht realisiert. Tatsächlich braucht es Zeit, ist eine lange Arbeit. Man muss viele junge Sänger hören, sie aufbauen. Dann kann gelingen, dass man sogar auf Gastspielreisen Erfolge mit Mozart-Aufführungen feiert, die so gut wie ausschließlich aus dem Ensemble besetzt sind.

Haben Sie noch etwas falsch eingeschätzt?

Ich war vielleicht ein bisschen naiv zu glauben, man würde verstehen, dass ich zuerst Lücken im Repertoire des 20. Jahrhunderts schließen wollte - Janacek, Hindemith oder Weill -, ehe wir uns dem Zeitgenössischen zugewendet haben. Das wurde heftig kritisiert, brachte aber letztendlich einen Vorteil: Das Publikum hat in der eben abgelaufenen Spielzeit nicht nur akzeptiert, dass wir innerhalb kurzer Frist gleich drei zeitgenössische Werke aufgeführt haben - Olga Neuwirths "Orlando" war restlos ausverkauft!

Die Rechnung ist also letztlich aufgegangen. Hat auch etwas nicht geklappt?

Was ich nicht mehr so machen würde: Ich hatte Künstler am Theatre des Champs-Elysees vorsingen lassen - und es stellte sich heraus, dass die akustischen Verhältnisse, obwohl die Häuser in der Größe durchaus vergleichbar sind, doch völlig andere sind. Stimmen, die dort gut klangen, erwiesen sich in Wien als nicht tragfähig genug. Vielleicht 15 Engagements meiner ersten Spielzeit würde ich heute nicht mehr machen.

Hat das nur mit Akustik zu tun oder auch mit den Vorlieben des Wiener Publikums?

Über den Wiener Geschmack habe ich natürlich viel gelernt. Zum Beispiel, dass man hier vor allem große Stimmen liebt. Auch im Mozart-Fach. In Frankreich oder England ist man da doch eher in Richtung des sogenannten Originalklangs orientiert.

Mussten Sie Ihren Kurs wechseln, oder hat sich das Publikum "erziehen" lassen?

Ich habe jedenfalls bemerkt, dass ich im Lauf der Jahre eine immer größere Zustimmung in Besetzungsfragen bekommen habe. Ich denke, man geht da vielleicht aufeinander zu.

Welcher Ihrer Vorsätze hat sich gar nicht erfüllt?

Ich hatte anfangs drei Wünsche: Ich wollte eine Probebühne, ein Streaming-System und eine Opernschule. Zwei von den dreien habe ich bekommen.

Und die Opernschule?

Das Konzept dazu war fertig. Finanzierbar waren aber nur Stipendien für junge Sänger. Das funktioniert dank der Sponsoren bis heute. Valeriia Savonskaia zum Beispiel, die in der Abschlussgala so schön die Fiordiligi gesungen hat, ist 22 und war dieses Jahr eine der Stipendiatinnen. Der Ersatz für das Studio hat also gut funktioniert, wir konnten über die Jahre etliche Stipendiaten ins Ensemble übernehmen.

Mit der Arbeit für das junge Publikum sind Sie ebenfalls zufrieden?

170.000 Kinder haben wir ins Haus gebracht. Drei Produktionen konnten wir sogar im großen Haus realisieren. Und die Walfischgasse hat sehr geholfen: Wir konnten dadurch unsere Jugendarbeit um 50 Prozent steigern.

Wie sind denn die Zahlen in Ihrer abschließenden Statistik?

Wir haben in den zehn Jahren 111 verschiedene Stücke von 47 verschiedenen Komponisten und Komponistinnen gespielt. 2126 Opernvorstellungen haben stattgefunden, dazu 38-mal die "Fledermaus" und 512 Ballettvorstellungen. Mit den Konzerten waren es alles in allem 3601 Vorstellungen.

Wie wichtig war Ihnen, dass Komponisten wie Thomas Ades und Peter Eötvös ihre eigenen Opern dirigiert haben?

Das halte ich für besonders wichtig. Verdi hat am Haus dirigiert. Richard Strauss war hier Direktor. Es waren auch schöne Erlebnisse, denn schon das Orchester reagiert anders auf zeitgenössisches Repertoire, wenn der Komponist selbst am Pult steht und sich als guter Dirigent entpuppt. Außerdem war es schön zu sehen, dass Eötvös auf meinen Vorschlag hin seine drei Schwestern nicht mehr wie bei der Uraufführung mit Countertenören besetzt hat, sondern mit drei russischen Sängerinnen aus unserem Ensemble. Hätten wir Countertenöre engagiert, wäre das eine Art Gastspielproduktion geworden. So aber haben meine drei Russinnen Eötvös auf ein paar Fehler bei der Betonung des russischen Texts hingewiesen, die er korrigieren konnte. So gibt es jetzt eine "Wiener Fassung" der "Tri Sestri".