Manuskripte. In Wien hätte man dieser Tage Beethovens kompliziertestes Streichquartett neu beleuchtet. Eine neue Faksimile-Ausgabe macht es möglich nachzulesen, wie der Komponist Unpässlichkeiten in Kunst umzumünzen verstand.
Demnächst hätte im Mozartsaal des Wiener Konzerthauses eine ungewöhnliche Veranstaltung stattgefunden: Das Belcea Quartet hatte zum Jubiläum "Beethoven in Mysterious Company" avisiert, um ein Werk des Jahresregenten mit Zeitgenössischem zu konfrontieren.
Das ist an sich noch nichts Besonderes. Die sogenannten Sandwichkonzerte gibt es ja seit Jahrzehnten. Des einen Freud, des andern Leid: Manche Konzertbesucher werteten es als pädagogische Zwangsmaßnahme, wenn Ensembles - das Alban Berg Quartett tat es beispielsweise konsequent - zwischen Haydn und Schubert ein modernes Stück platzierten. Andere - es war zuletzt die Mehrheit - freuten sich über die Weitung des Horizonts.
Tatsächlich ist es auf diese Art der Programmierung zurückzuführen, dass die Spitzenwerte der Quartett-Literatur, allen voran die Werke Bela Bartoks oder Alban Bergs, heute zu den beliebten Repertoirestücken gehören.
Vom Segen der Musik-Sandwiches
Noch Hans Landesmann bekam als Konzerthaus-Intendant von wütenden Abonnenten Jahresbroschüren zurückgeschickt, in denen jedes Stück jüngeren Datums rot angestrichen war. Matthias Naske würde man hingegen schelten, würde er nur Klassiker, Schubert, Brahms und Mendelssohn aufs Programm setzen.
Die Initiative des Belcea Quartets wäre nun zwecks raffinierter Geburtstagszelebration für einen musikalischen Giganten noch einen Schritt weitergegangen. Man hätte am Abend des 20. April nicht das übliche Programmheft in die Hand gedrückt bekommen, sondern nur gewusst, dass diesmal Beethovens längstes Streichquartett, das B-Dur-Quartett op. 130 inklusive Große Fuge op. 133 gespielt würde. Allerdings mit Einschüben von zeitgenössischen Kompositionen. Wann genau was gespielt worden ist, dieses Geheimnis wäre erst in einer Conference im Anschluss an die Darbietung gelüftet worden.
Wer da nun meint, das hätte ja wohl kein Problem sein können, Musik Beethovens von Hervorbringungen unserer Zeitgenossen zu unterscheiden, der sollte den Testversuch wagen, wenn die Belceas ihn in einer der kommenden Spielzeiten, hoffentlich von Viren befreit, tatsächlich realisieren dürfen. Da wird er seine blauen Wunder erleben.
Seit ihren Uraufführungen gelten die späten Streichquartette Beethovens als harte Nuss, die zu knacken erst dem 20. Jahrhundert gegeben war. Gerade die Große Fuge wütet und tobt wie nichts in der Musikgeschichte vor Schönberg. Wer da in Zeiten der Langspielplatte die Nadel irgendwo in der Mitte des Stücks auflegte, hätte die anwesenden Musikfreunde raten lassen können, von wem diese Musik denn sei. Auf Wiener Klassik hätten nur ausgewiesene Connaisseurs getippt, die ihren Beethoven wirklich in- und auswendig kennen.
Jedenfalls hält die sogenannte Postmoderne beinah ausschließlich weniger haarige Höranforderungen bereit - und bestimmt keine einzige Komposition von solch komplexer Architektur, in der - apropos Postmoderne - scheinbar gegensätzlichste Dinge völlig unvermittelt nebeneinander stehen können. Was übrigens eine erstaunliche "Operation am offenen Kunstwerk" möglich gemacht zu haben scheint.
Überforderung der Hörer war wohl der Grund, warum Beethoven das Fugen-Finale aus dem Verband des sechssätzigen, ohnehin riesenhaft angelegten op. 130 herauslöste und unter separater Opusnummer veröffentlichte.
Das nachkomponierte, tänzerisch beschwingte, wenn auch hintergründige Finale ist seine letzte fertiggestellte Komposition. Die Genese nachlesen kann man jetzt im Nachwort der bisher schönsten editorischen Tat zum Beethovenjahr: Bärenreiter hat ein Faksimile des B-Dur-Quartetts (mit beiden Finalvarianten) herausgebracht. Erstmals sind da die Manuskript-Teile wieder gesammelt, die der Wind der Zeitläufte wirklich in Bibliotheken in aller Welt verweht hat.
Akustische Visionen zum Lesen
Für des Notenlesens kundige Musikfreunde ist es ein besonderes Vergnügen, während einer Wiedergabe des Quartetts im Faksimile zu blättern. Vieles, was ein Druck nicht wiedergeben kann, Nuancen, die nur eine einmal großzügigere, dann wieder dichter werdende Handschrift vermittelt, lassen Beethovens Klangvisionen deutlicher ahnen.
Und der Moment, in dem genau in der Mitte der Partiturseite von Beethovens Hand das Wort "beklemmt" steht, sorgt wirklich für Beklommenheit: Der Komponist hat da wohl einen erlittenen Herzanfall in Musik gefasst, der herrlich strömende Melodiefluss der "Cavatina" kommt gefährlich ins Stocken, findet erst tastend, taumelnd zurück auf den rechten Pfad. Da hört man den Menschen Beethoven, der seinen unscheinbaren Fingerabdruck inmitten der grandiosen Architektur seines Werks hinterlässt - und nun kann man ihn auch sehen . . .
Ludwig van Beethoven: Streichquartett op. 130, Grande Fugue op. 133. Bärenreiter Faksimile, 2020