Das Schönste an dieser Neuerscheinung ist die Vorfreude, die der Titel schürt: „Bruno Walter at the NBC, Vol. 1“ verheißt zumindest eine zweite Folge, vielleicht noch mehr. Was auf Nr. 1 zu hören ist, lässt das Herz jedes Klassik-Sammlers höher schlagen. Bruno Walter am Pult der von Arturo Toscanini trainierten Mannschaft des NBC, das mochte schon für die Zeitgenossen etwas ganz Besonderes bedeuten.
Hier Toscanini, der Präzisionsfanatiker, da Walter, der leidenschaftliche Gestalter mit einem Sinn für dramatische Entwicklungen, der jenem Toscaninis gewiss ebenbürtig war, aber auch mit einer Sensibilität für weich geschwungene, liebevoll modellierte Phrasierungsbögen und warme Farbtönungen – für die der grimmige Italiener nicht berühmt war.
Freilich: ein von Toscanini vorbereitetes, ebenso reaktionsschnelles wie flexibles, rhythmisch akkurates Orchester produzierte unter Bruno Walters Händen tatsächlich Außerordentliches. Der Maestro, eben vor den Nationalsozialisten aus Wien geflüchtet, stand in seiner zweiten amerikanischen Saison einige Wochen lang am Pult des NBC-Orchesters.
Er war ja nicht weniger unerbittlich als Toscanini, nur kam er mit anderen Mitteln zum Ziel. Er blieb auch bei der fünften Wiederholung einer Phrase, die noch nicht so klang, wie er sich's vorgestellt hatte, noch freundlich. Taktstöcke gingen nicht zu Bruch, und doch erreichte der Dirigent eine makellose Orchesterleistung, die sich – das ist der wichtigste Unterschied – niemals anhört, als hätte einer die Musiker in ein Korsett geschnürt. Alle Melodien und thematischen Elemente scheinen frei zu schwingen.
Zwei Konzertmitschnitte sind hier vereint. Sie enthalten unter anderem die einzige Aufnahme, die unter Walters Stabführung von Tschaikowskys Fünfter Symphonie erhalten blieb, außerdem die einzigen Livemitschnitte von Schuberts Fünfter und Bruckners Vierter, grandiose, ausdruckstarke Interpretationen, die in ihrem stilistischen Zugriff vielleicht ahnen lassen, wie Walters Vorbild Mahler die Musik seiner Vorgänger aufgefasst haben mag.
Dass Tschaikowsky neben Schubert, Bruckner und – dem hier nicht vertretenen – Brahms zu den Ahnen des Mahlerschen Subjektivismus gehört, ist Bruno Walters Interpretationen der Fünften jedenfalls anzuhören! Im Übrigen agiert der Dirigent in diesen Dokumenten seiner Kunst noch weitaus spontaner, feuriger, direkter zupackend als der – nicht minder grandiose, aber deutlich abgeklärtere – Maestro, der später mit dem eigens für ihn gegründeten Columbia Symphony Orchestra gediegene Studioaufnahmen seines Repertoires gemacht hat.
Zur Probe genügt es, die ersten Takte des Final-Satzes von Bruckners „Romantischer“ zu hören, wo Walter mit dem NBC Orchestra Anno 1940 ein veritables musikalisches Erdbeben entfesselt; übrigens mit allem Drum und Dran der damals üblichen Spielfassung der Partitur, also inklusive Beckenschlag. Den durch die Bruckner-Gesamtausgabe „gereinigten“ Notentext hat Walter erst für die spätere Studioproduktion übernommen. Hier ist noch alles wild, ungestüm.
Und Schuberts angeblich so „mozartische“ Fünfte kennt im Andante hintergründige, ja sinistre Zwischentöne, geheimnisvolle Stimmungen. Sie mündet danach in ein elektrisierend rhythmisiertes Scherzo und ein Finale, das lehrt, was die Vortragsbezeichnung „vivace“ wirklich bedeutet.
Historische Aufnahmen können atmen
Bearbeitet wurden die mittlerweile 80 Jahre alten Aufnahmen von Andrew Rose, der für sein Label Pristine von den jeweils bestmöglichen Quellen ausgeht und diese mit Sinn für den Erhalt des reichstmöglichen Klangs digitalisiert. Die Filtermethoden zwecks Vermeidung sämtlicher Knack- und Knistergeräusche, vor allem aber des notorischen Bandrauschens führen bei den meisten großen Labels zu grimmig entstellenden Ergebnissen, im Bereich der Bässe, vor allem aber in den Höhen jeglichen sinnlichen Glanzes beraubt. Mit dem Rauschen entfallen auch die Obertöne.
Nicht so bei Rose, der es überdies schafft, die dieserart sensibel wiederbelebten Aufnahmen in einen imaginären Stereo-Raum zu transferieren, der den Klängen ermöglicht zu atmen wie in einem großen Konzertsaal. Das Hörerlebnis ist tatsächlich atemberaubend. Zu haben ist diese Edition als Download via www.pristineclassical.com oder als Doppel-CD.