Diabelli-Variationen

Der spannendste Beitrag zum Beethoven-Jahr

Rudolf Buchbinder. Der Wiener Pianist stellte am Dienstag im Musikverein seine jüngste Doppel-CD vor, eine Variation über die Diabelli-Variationen, sozusagen: Beethoven, gekoppelt mit seinen und unseren Zeitgenossen.

4. März 2020

Rudolf Buchbinder bat gestern, Dienstag, Abend in den Musikverein zu seinem "Diabelli-Projekt": Seine 100. Wiedergabe der Diabelli-Variationen kombinierte er mit neun Uraufführungen. Bei Komponisten (auch musikalisch) unterschiedlichster Provenienz hat er Variationen über das Walzerthema in Auftrag gegeben, das Anton Diabelli einst ebenso an führende Komponisten seiner Zeit gesandt hat.

Dass Beethoven daraufhin 33 Variationen geliefert und damit nicht nur Diabellis Projekt gesprengt hat, weiß man. Buchbinder setzt dieses einzigartige Opus 120 nun in ein neues Umfeld. Auf CD ist das Programm soeben erschienen. Die neuen Variationen konnte Buchbinder alphabetisch reihen - es ergab sich daraus eine wunderbare Gliederung. Lera Auerbachs Variation steigt aus düsteren Tiefen zu leidenschaftlichen Aufwallungen. Brett Deans absolviert daraufhin kapriziöse Bocksprünge, unterbrochen von stillen, nachdenklichen Oasen.

Toshio Hosokawa "Verlust" meditiert über jeden Takt des Themas, breitet die einzelnen Figuren, Akkorde, Töne behutsam vor dem Hörer aus, von drohenden Clustern im Bass unterminiert. Christian Jost "Rock it, Rudi!" reißt uns daraufhin wild pulsierend aus der Rückschau, bevor mit Brad Lubman zumindest für Momente die fragmentierte Ästhetik Webern'scher Prägung vernehmbar, freilich sogleich durch kräftige Akzente wieder ausgetrieben wird.

Philippe Manouri behandelt das Material wie einen naiven Auszählreim, der außer Kontrolle gerät. Max Richte lieferte den letzten Ruhepunkt im bald wieder wirbelnden Geschehen, das Rodion Schtschedrin mit einer Geläufigkeits-Etüde, unterbrochen von kecken Stakkati, wieder vorantreibt, hermetischer freilich als im folgenden Johannes Maria Stauds, der zwischen swingenden Bassgängen und frei hingeschleuderten Akkordketten changiert.

Tan Duns "Blue Orchid" eröffnet mit einem Fragezeichen, das Diabellis neckischen Anfangsvorschlag auffaltet, um dann zarte Pflänzchen aus Elementen des Themas hochzuziehen, die nach und nach den ganzen Tonumfang des Flügels überwuchern.

Wie nach Beethovens Parforceritt scheint Diabellis "Walzer" damit vollkommen ausgelöscht. So kann der Zyklus der "neuen Variationen" mit einem raffinierten Stück des Schweizers Jörg Widmann schließen, der allen miteinander die lange Nase dreht. Kompositionstechnisch ist das gewiss der elaborierteste Beitrag, taugt daher nicht nur alphabetisch gesehen als Finale, eine sanfte Revolution der Töne, die taumelnd an Diabellis Noten entlang dem Abgrund zusteuern, ein bisschen sogar wienerische Stimmung streifen und auf dem Höhepunkt auf den "Radetzkymarsch" treffen, um ihn in einen Boogie zu verwandeln; und das nur scheinbar im Delirium, in Wahrheit ganz logisch aus Diabellis Auftakt entwickelt.

So meisterlich sind auch nicht alle Komponisten der Beethoven-Zeit mit der Aufgabe fertiggeworden. Buchbinder hat einige Versatzstücke aus Diabellis Projekt aufgenommen, darunter Virtuoses von Johann Nepomuk Hummel oder Friedrich Kalkbrenner, das verrät, was man im Biedermeier unter pianistischer Brillanz verstand. Ob in der Wunderkind-Variation des elfjährigen Liszt schon das Genie zu erkennen ist? Schubert freilich verwandelt die Stimmung im Nu, auch wenn er über Diabelli improvisiert, entsteht sozusagen von selbst große Musik.