Hat die Volksoper Zukunft?

Identität gesucht - liebevoller Prinzipal ersehnt

Die Bewerbungsfrist für die Nachfolge Robert Meyers ist zu Ende. Ob in diesem Lande jemand erkannt hat, was die Frage einer Neubestellung des Direktorenpostens in Wiens Haus am Gürtel für das Musikland bedeutet?

Die Frist ist um. Bis zum Wochenende konnten sich Interessenten für die Leitung der Wiener Volksoper bewerben. Wer da meint, ein Wagner-Zitat im Zusammenhang mit diesem Haus sei unpassend gewählt, irrt: "Der fliegende Holländer" steht in der kommenden Saison auf dem Spielplan. Womit die Liste der anstehenden Probleme schon beginnt.

Die Volksoper hat nämlich ein Problem. Das ist, dass sie kein Problem hat. Und zwar so lang nicht, wie Langzeit-Direktor Robert Meyer sich selbst, den beliebten Schauspieler, so oft wie möglich engagiert.

Die Volksoper existiert in Wahrheit aber gar nicht mehr. Steht der Direktor nicht selbst auf der Bühne, wüsste keiner mehr zu sagen, welche Rolle dieses Haus im Wiener Kulturleben überhaupt spielt.

Der "fliegende Holländer" ist ein Symptom dafür. Der Opern-Spielplan des Hauses am Gürtel besteht zu weiten Teilen aus Werken, die im großen Schwesterhaus an der Ringstraße zum Festbestand des Repertoires gehören. 2020/21 - Gott geb's, dass überhaupt gespielt werden kann - gibt es in der Volksoper neben Wagner noch Puccini und Verdi: und zwar "Turandot" sowie "Rigoletto" und "Traviata"; und das auf Italienisch. Von Verdi wird man in deutscher Sprache "Die Macht des Schicksals" in einer konzertanten Version erleben. Wie sinnvoll das ist, darf diskutiert werden.

Großes Repertoire? Ja, aber auf Deutsch

Die gute Gepflogenheit, Meisterwerke des Repertoires auf Deutsch einzustudieren, übt man nur bei "Carmen" und Brittens "Tod in Venedig". Eine eigenwillige Mixtur aus Deutsch und Italienisch bietet man bei Mozarts "Don Giovanni".

Da müsste ein sinnvolles Konzept für eine gedeihliche Volksopern-Zukunft ansetzen: Selbstverständlich kann man beliebte Stücke an beiden Wiener Opernhäusern spielen - oder, wie es bei der "Zauberflöte" schon vorgekommen ist, an allen dreien - nur: Dann bedürfte es einer verpflichtenden Koordination. "Traviata" in der Originalsprache in zwei Wiener Häusern ist pure Geldvernichtung.

Noch dazu, wenn am Gürtel die eigentliche Aufgabe nicht wahrgenommen wird, die einst imagebildende "Spieloper" in Ehren zu halten: Davon blieb 20/21 Lortzings "Zar und Zimmermann". Was in diesem Genre brachliegt, füllt Bände: von E. T. A. Hoffmann ("Undine") über Nicolai und Flotow bis zu Cornelius ("Barbier von Bagdad") und Hugo Wolf ("Corregidor") - und in der Nachfolge der Gattung über Kienzl, Zemlinsky, d'Albert etc. bis zu deutschem Verismo.

In diesem Haus genossen einst Stücke von Wolf-Ferraris "Vier Grobianen" bis Blachers "Preußischem Märchen", von Weinbergers "Schwanda, der Dudelsackpfeifer" bis Prokofieffs "Liebe zu den drei Orangen" Heimatrecht. Bis in die Achtzigerjahre standen, gefühlt, mindestens doppelt so viele Titel pro Saison auf dem Programm wie heute. Freilich bei intakter Ensemblestruktur.

Dass die Volksoper in dieser Hinsicht vollkommen blind geworden ist, hat die Wiener Opernszene verarmen lassen. Zumal auch das Theater an der Wien die Kunst der Repertoire-Verdoppelung und -Verdreifachung ohne Rücksicht übt.

Dieses "Opernhaus der Stadt" Wien geht überdies demnächst in die Hände eines genialischen Regie-Narziss. Bezugnahme auf Befindlichkeiten einer "Wiener Dramaturgie" ist dort also nicht zu erwarten.

Korrektur des Spielplans

Bleibt die letzte Hoffnung: Die Entscheidungsträger finden unter den Bewerbungen die eine oder andere vor, die für die Volksoper ein unverwechselbares Profil jenseits direktorialer Selbstdarstellung garantieren, einen Prinzipal, eine Prinzipalin, die für ihre Künstler da sind und sich liebevoll um deren Fortkommen bemühen.

Nebst der dringenden Korrektur des Opernspielplans gehört dazu ja die nicht gerade leichte, aber zentrale Übung, dem Haus seinen Stellenwert als erste Operettenbühne des Landes zurückzuerobern.

Die Formung eines wendigen jungen Ensembles, überhaupt Fragen der musikalischen Kompetenz bedürfen der dringenden Intervention. Die kann nur gelingen, wenn ein vielfältiger Spielbetrieb dieses Ensemble konsequent fordert, nicht, wenn wie derzeit ein unseliges Semi-Stagione-System das Angebot an Titeln drastisch reduziert und ein allzu großes Schwergewicht auf dem Musical liegt. Die fehlende Balance wiederherzustellen wäre die wichtigste Aufgabe.

Ob es eine türkis-grüne Kulturpolitik gibt, die nach dem roten Kahlschlag verantwortungsbewusst in die Zukunft schaut?