Mit den Nachwehen der Achtundsechziger-Bewegung hatte sich der deutsche Komponist Hans Werner Henze völlig aus den Opernhäusern und Konzertsälen der Welt zurückgezogen. Er wollte "engagierte Musik" machen, ging eine Zeit lang nach Kuba und verfasste, wenn schon, Opern nach Texten von Edward Bond mit sozialkritisch-revolutionärem Inhalt. Dabei war Henze in den späten Fünfziger-und frühen Sechzigerjahren zum Liebkind des Musik-Establishments geworden: Er war nach Italien gegangen, wo man freizügiger leben konnte in jenen Jahren. Er schrieb Musik zwischen Neutönerei und der Liebe zu zarten Melodien und schlichter Harmonik und positionierte sich damit zwischen allen Stühlen: Den Avantgardisten zu altmodisch, dem Publikum zu modern. Henze hielt den Zwiespalt nicht mehr aus und sonderte sich weiter ab-beziehungsweise warf sich in die Arme der engagierten Linken. Doch auch das hatte ein Ablaufdatum: Die Oper "Das verratene Meer" markierte so etwas wie die Rückkehr des Komponisten ins allgemeine Musikleben. Henze war sich seiner sicher geworden und schrieb einfach nur noch Stücke, auf die er Lust hatte-ohne Rücksicht auf ästhetische Doktrinen oder politische Wegweiser.
Bezeichnend dafür ist, dass die Vorlage zum "verratenen Meer" von einem ausdrücklich der japanischen "Rechten" zuzuordnenden, wenn auch äußerst populären Autor stammt: Yukio Mishima hat sich nach einem von ihm selbst mitorganisierten Putschversuch zur Wiedereinsetzung der absoluten Monarchie 1970 das Leben genommen.
Psychoanalyse als Inspiration. Sein Roman "Gogo No Eiko" wurde zur Grundlage von Henzes Oper, für deren Stil und Anlage der Komponist ausdrücklich Vorbilder nennt, die weit weg weisen von seiner jüngeren, engagierten Künstlervergangenheit: Ein Essay von Auden, "das Theater Racines und Corneilles" und, man höre und staune, "das post-wagnerische Musikdrama und die Psychoanalyse" seien, so Henze, "wesentliche Inspirationsquellen für diese im modernen Japan angesiedelte Liebestragödie" gewesen.
Es war Henze auch wichtig, darauf hinzuweisen, "dass das Stück keine Moral im westlichen Sinn hat. Es geschehen die Dinge schicksalhaft, d. h. wie durch Zufall, wie in der Natur. Wir dürfen nicht richten, dürfen keine christlich-westlichen Kriterien ansetzen. Es wird dargestellt, wie Menschen einander begegnen und was die Konsequenzen der Begegnungen sind."
Mit entsprechendem "Abstand" hat man also bei einer Präsentation des Werks an der Wiener Staatsoper die Handlung zu dechiffrieren. Im Wesentlichen geht es um die rituellen, quasireligiösen Handlungen einer japanischen Jugendgruppe, die es sich zum Ziel macht, ihre Prinzipien gegen Eindringlinge von außen zu verteidigen, und die dabei vor dem Äußersten nicht zurückschreckt.
Der Verrat. Opfer der Aktion ist Ryuji, Offizier der japanischen Handelsmarine, der sich in die 33-jährige, ebenso schöne wie wohlhabende Witwe Fusako verliebt. Fusakos Sohn Noboru, Mitglied der Jugendbande, ist zunächst interessiert an seinem "Stiefvater", doch als offenbar wird, dass der Offizier seinen Dienst quittiert, um mit Fusako zu leben, ändert sich die Lage schlagartig: Die jungen Burschen sehen in dem Offizier einen Abtrünnigen, der "das Meer verraten" hat. Die Geschichte, die Henze zu den Worten seines Librettisten Hans-Ulrich Treichel erzählt, handelt vom langsamen Ablösungsprozess des Burschen, seinen erotischen Beobachtungen bei den nächtlichen Zusammenkünften seiner Mutter mit ihrem Geliebten. Und von der schleichenden Infiltration durch das Gedankengut der jungen Männer, die am Ende des ersten Teils der Oper eine Katze schlachten-was sich zuletzt als Generalprobe für die rituelle Opferung Ryujis entpuppt, mit der der spiegelbildlich zum ersten angelegte zweite Teil der Oper schließt. In Henzes Charakterisierung der Figuren gibt es nicht Gut, nicht Böse: "Jede Frau kann sich mit Fusako identifizieren, jeder Mann mit Ryuji. Und jeder Mensch mit dem Anfänger, dem es zustößt, im College einen Anführer kennenzulernen und in seine Gang von knabenhaften, altklugen Schulkameraden integriert zu werden."
Der Komponist möchte keine Verurteilungen vornehmen: "Es ist wichtig, dass diese Jungens wie normale oder besser: überdurchschnittlich begabte, college boys' sich benehmen, wir müssen sie mögen, wir müssen besonders mit Noboru sympathisieren, der Hauptrolle der Oper."
Entsprechend ergeht Henzes Aufforderung an die Regisseure und die Darsteller der Jugendbande: "Sie sind keine Perversen oder Skinheads oder Rocker, dies sind zarte, verletzte Wesen, deren Spielereien irgendwann einmal, sozusagen durch den Unglücksfall einer zerebralen Missfunktion hervorgerufen, in tödliche Wirklichkeit umschlagen. Aber sie sind keine Kriminellen. Es stößt ihnen etwas zu. Ein geistiges Abenteuer, das zu weit geht, außer Kontrolle gerät: die Grenzüberschreitung."
Henzes Partitur ist ein Musterbeispiel für die von diesem Komponisten jahrzehntelang kultivierte Polystilistik, die vieles von der sogenannten Postmoderne vorweggenommen hat, aber auch dort, wo sie zwischen avantgardistischen Praktiken und Elementen der Unterhaltungsmusik vermittelt, stets unverwechselbar die Handschrift Henzes trägt. In den Szenen der Jugendbande Noborus greift der Komponist sogar auf Techniken des Renaissance-Madrigals zurück: Die fünfstimmigen Ensembles der Jugendlichen sind für alle Männerstimmlagen gesetzt: vom Countertenor bis zum Bass. Sie bilden mit scharf geschliffenen, nervös-vielschichtigen Rhythmen den Gegenpol zur schwärmerischen Musik der "Erwachsenen".
Einen breiteren Stellenwert als gewohnt nehmen in diesem Werk die Kommentare der Handlung durch das groß besetzte Orchester ein: Die Zwischenspiele sind oft minutenlang und symbolisieren die Stimme der Natur, des "verratenen Meers".
Die österreichische Erstaufführung der Oper fand in japanischer Sprache unter dem Titel "Gogo No Eiko" bei den Salzburger Festspielen statt. Die Wiener Staatsoper zeigt die szenische Erstaufführung in deutscher Sprache mit Vera-Lotte Boecker als Fusako, Josh Lovell als Noboru und Bo Skovhus als Ryuji. Simone Young dirigiert, Jossi Wieler und Sergio Morabito inszenieren in Bühnenbildern von Anna Viebrock.
Tipp
"Das verratene Meer".Die Premiere der szenischen Erstaufführung in deutscher Sprache findet am 13. Dezember in der Wiener Staatsoper statt. Dirigentin: Simone Young. Regie: Jossi Wieler und Sergio Morabito. Mit Josh Lovell, Bo Skovhus, Vera-Lotte Boecker.
Sergio Morabito. Der Chefdramaturg der Wiener Staatsoper führt Regie.
Bo Skovhus. Der dänische Bariton gibt den Offizier Ryuji.
Josh Lovell. Der junge kanadische Tenor singt die Hauptrolle, Noboru.
Simone Young. Die Dirigentin leitet die Premiere an der Wiener Staatsoper.
Fotos: Simon Pauly; Berthold Fabricius; Klara Beck; Roland Unger;