Karl Richter

So satt und prächtig darf Barock klingen CD-Edition. Sämtliche Aufnahmen, die der Dirigent, Cembalist und Organist Karl Richter für die Deutsche Grammophon gemacht hat, sind auf 100 Silberscheiben gesammelt erhältlich und lassen uns stilistische Grundfragen erörtern.

Weitsprung von der Orgelbank", titelte eine Münchner Zeitung, als das Bayerische Staatsorchester unter Karl Richter einst Bruckners Achte musizierte. Dieser Dirigent war eindeutig registriert: Deutschlands führender Kritiker, Joachim Kaiser, schrieb: "Wer Bach sagt, spricht auch von Karl Richter."

Karl Richter war auch hierzulande der Mann für die Barockmusik. Erinnert man sich noch, dass er bei Konzerten mit den Symphonikern und Philharmonikern auch Schubert oder Mendelssohn dirigiert hat?

Geistliche Musik musste jedenfalls dabei sein, wenn man diesem Künstler gestattete, sich jenseits des Barock-Geheges zu bewegen. In aller Regel war Karl Richter aber verlässlich auf dem Musikvereins-Podium zu finden, wenn es alljährlich galt, in der österlichen Zeit Bachs "Passionen" aufzuführen, wenn die h-Moll-Messe oder Händels "Messias" auf dem Programm standen.

Erst die Landnahme der sogenannten Originalklang-Bewegung hat die Erinnerung an Richter verblassen lassen. "So geht das heute nicht mehr", hört man oft, wenn die Rede auf Richters Aufnahmen kommt.

Da möchte man nun widersprechen, wenn man die Richter-Edition durchnimmt, die von der Deutschen Grammophon gerade in den Handel gebracht wurde. 97 CDs, dazu BluRay-Audio-Discs, die das gesamte von Richter eingespielte geistliche Chorwerk Bachs in HD-Auflösung enthalten, darunter einen ganzen Jahrgang der Kirchenkantaten, mit zum Teil mehreren Werken für jeden Sonn- und Feiertag.

Der Barock-Karajan

Man beginnt Joachim Kaisers Diktum zu verstehen. Die Plattenfirma hatte Richter zu einer Art Barock-Karajan aufgebaut und ihm ermöglicht, Musik mit seinem Münchner Bachchor und dem dazugehörigen Orchester aufzunehmen, in dem Instrumentalisten wie Flötist Aurele Nicolet und Trompeter Maurice Andre brillierten. Exquisite Solisten wie Edith Mathis, Peter Schreier oder Dietrich Fischer-Dieskau sangen. Das lenkte das Interesse einer breiten Hörerschaft auf ein Repertoire, das im Konzertleben keine Chance auf Beachtung hatte.

Richters Ruhm führte ihn um den Erdball: In Russland und in Japan war er es, der die ersten ungekürzten Aufführungen von Werken wie Bachs "Matthäuspassion" leitete, die er übrigens zweimal im Studio realisiert hat, einmal, 1958, mit Irmgard Seefried, Herta Töpper und Ernst Haefliger als Evangelisten. Ein zweites Mal dann mit Mathis und Schreier, wobei Fischer-Dieskau, der 1958 noch die Bass-Arien gesungen hatte, von Kieth Engen die Partie des Christus übernahm, während die Arien von Matti Salminen gesungen wurden.

Das war 1979, und der Leser liest richtig: Der mächtige finnische Bass, der bald als König Marke und Hunding die Wagner-Welt erobern sollte, sang Bach. Im üppig registrierten Klangbild der Richter'schen Interpretationen war das für einen Mann, der seine Stimme beherrschte, ohne Weiteres möglich. Klangsinnlichkeit und Kraft kreidete die folgende, auf Purismus gestimmte Generation Richter freilich bald heftig an.

Sie vergaß dabei, dass schon Richters Aufführungsstil gegenüber der romantischen Barockdeutung der Zeit Wilhelm Furtwänglers oder Otto Klemperers eine stilistische Revolution bedeutet hatte. Und wer wollte sagen, wo die viel beschworene, aber nie zu entdeckende Wahrheit tatsächlich verborgen liegt?

Wahrhaftig, ehrlich, tief empfunden waren Richters Interpretationen immer. Und wer das Wort "barock" mit der optischen Prachtentfaltung der Kunst jener Epoche verbindet, wird in der vorliegenden Edition gewiss mehr musikalische Entsprechungen finden als in den derzeit kanonisierten Ergebnissen der Aufführungspraxis.

Also? Puristen sollten die Finger von diesen Aufnahmen lassen. Musikfreunde, die sich ein offenes Ohr für alle möglichen Zugänge zu den bedeutendsten Partituren bewahrt haben, werden hingegen ihre Freude haben. Richter gelang ja etwa mit seiner Einspielung des "Weihnachtsoratoriums" ein Gegenstück zur berühmten Karajan-Aufnahme der Beethoven'schen "Missa solemnis" zur selben Zeit: Ein so edles Solistenensemble, mit Gundula Janowitz, Christa Ludwig, Fritz Wunderlich und Franz Crass, hat sich vermutlich nie wieder im Studio versammelt.

Glanzvoll realisiert Richter selbstverständlich auch die Concerti - von Bach oder Händel, dessen "Messias" auch in zwei strahlenden, in den intimen Momenten innigen Wiedergaben zu hören ist.

Die Lust am Klang tobt sich aus

Dass Händels "Giulio Cesare" oder der "Samson" unter diesem Dirigenten erstmals in ungekürzter Form zur Diskussion gestellt worden ist, sei angemerkt. Es gehört zum Gesamtbild wie die Aufnahmen des Solisten Richter, der ja zu Zeiten im Wiener Musikverein regelmäßig ein breites Publikum für Orgel-Abende zu begeistern wusste! In diesen Fällen konnte er die Lust am großen, rauschhaften Klang auch an romantischer Literatur ausleben, ja austoben: Bei Franz Liszts und Max Regers Präludien, Fantasien und Fugen "über den Namen BACH" ist sich dann vermutlich auch der skeptischste Stilkritiker sicher, dass diese Musik so und nicht anders gemeint sein musste.