Netrebko als Tosca

Anna Netrebko bewahrt ihre Ruhe im Sturm Staatsoper. Am Abend vor der Premiere einer aufwendigen Erstaufführung streamte das Haus am Ring auch noch Puccinis "Tosca" - mit der Diva als Diva.

Die Netrebko als Tosca - das war im Vorjahr, als es noch eine regelrechte Eröffnung der Saison in Mailand gab, ein international viel beachtetes Rollendebüt am 7. Dezember an der Scala. Ein Jahr danach wollte man die Primadonnissima unserer Tage als Diva in der Rolle der Diva auch an der Wiener Staatsoper vorstellen. Das vermochte das wütende Virus nur teilweise zu verhindern: Publikum war nicht zugelassen. Aber Fernsehkameras und der Streaming-Dienst des Hauses. Also konnte am Sonntagabend die Welt zuschauen.

Zuhören auch, gewiss, aber das war nur die zweite, nicht ganz so attraktive Seite dieser Opernmedaille, die sich die Staatsopernführung verdient hat. Sobald die Netrebko ins Scheinwerferlicht tritt, weiß die Welt davon. Sie weiß nun also auch: Der Wiener Opernbetrieb lässt sich nicht unterkriegen: Hier wird weiter geprobt und gespielt. Sobald auch Publikum wieder ins Haus darf, wird es sein, als wäre nichts geschehen.

An zwei aufeinanderfolgenden Tagen streamt man vom Opernring aus spektakuläre Produktionen. Für Montagabend war die aufwendige Erstaufführung von Hans Werner Henzes "Das verratene Meer" angekündigt. 24 Stunden vorher also "Tosca" mit der begehrtesten Sängerin unserer Zeit.

Das Orchester als Star

Wien bleibt Wien. Das ist in Opernfragen alles andere als die von Karl Kraus sogenannte gefährliche Drohung. Denn hier spielt ein Orchester, das auch in Krisenzeiten nicht aus der Übung kommt und seinen Puccini so in- und auswendig kennt, dass die einzelnen Instrumentalsolisten sich auch im Fall der undiszipliniertesten Auslegung rhythmischer Detailfragen durch den einen oder anderen Sänger sogleich der Vokallinie anzuschmiegen wissen. Und das, ohne dabei die dramatisch scharf zeichnende Gangart des Dirigenten Bertrand de Billy außer Acht zu lassen. Das ganze Drama fand diesmal jedenfalls philharmonisch statt.

De Billy liest aus der "Tosca"-Partitur Puccinis alle minutiösen Schilderungen szenischer Details heraus, jene, die den Komponisten als Meister des Verismo zeigen, der nötigenfalls auch einmal brutal vorgeht - frei nach Nietzsche: wie man mit dem Hammer musiziert.

Ein Meister aber auch, der in einen breit ausgelegten, melodischen Klangteppich noch Pointen hineinwebt, die de Billy alle hörbar macht. Mögen sie komödiantisch sein, wie in der Eingangsszene mit dem Mesner, den Wolfgang Bankl unaufdringlich, daher umso effektvoller zu einer echten, der einzigen Buffo-Figur des Stücks macht. Mögen sie auch die zahllosen ätzenden, schmerzenden Nadelstiche illustrieren, die diesen spannendsten aller Hauptabendkrimis durchziehen. Dank de Billys interpretatorischer Insistenz konnte das Orchester - wie so oft in Wien - zum Star des Abends werden; zumindest zum ebenbürtigen Widerpart der Primadonna, die auf der Szene herrschte, und zwar unumschränkt.

Stimmschönheit als Nebensache

Da war schon auch der Scarpia, den Wolfgang Koch filmreif darzustellen wusste, dessen stimmliche Ausformung der Partie aber gewiss nicht verriet, dass Puccini hier letztendlich doch ein modernes Musikdrama auf dem Humus der italienischen Operntradition wachsen ließ. Ein wenig mochte man an die früheren Gastspiele von Sängern wie Theo Adam danken: Wotan im Palazzo Farnese wirkte damals schon rechtschaffen furchterregend. Angesichts von Mord und Totschlag sollten Stilfragen ja vermutlich nicht gestellt werden.

Dass man, Stil hin oder her, schon Tenöre gehört hat, die dem Cavaradossi eine schönere Stimme geliehen haben als Yusif Eyvazov, lässt sich hingegen nicht verschweigen. Andererseits wird man nicht viele Sänger finden, denen die hohen Töne so wenig Mühe machen: Das "Vittoria" hat im Mittelakt den napoleonischen Triumphen zwar bestimmt schon edelmetallischere Denkmäler gesetzt, so sicher hat sie freilich kaum einer aufzustellen gewusst. Den behutsamen Liebeserklärungen an Tosca, namentlich den "dolci mani" kurz vor dem schrecklichen Finale wünschte man dennoch zärtlich getönte Pianissimi - da nähme man zur höheren Ehre der dramaturgischen Wahrhaftigkeit wohl das eine oder andere weniger souveräne hohe B in Kauf.

Wie auch immer: Anna Netrebko war die Tosca. Und da sind wir alle dabei, staunend, wie stets bei dieser Künstlerin, das Wachsen und Werden eines Rollenporträts zu bewundern. Schon an der Scala nötigte die makellose Beherrschung in allen vokalen Lebenslagen Respekt ab: Die Tiefe, wenn auch oft kräftig betont, klingt satt und fundiert. Vor allem aber: Die Stimme behält bis zum hohen C ihren samtweichen, volltönenden Charakter. Dass sich der Wiener Orchesterklang und Netrebkos Sopran im "Vissi d'arte" aufs Herrlichste mischen würden, war vorherzusehen. Dass die Netrebko während der heftigsten Aufwallungen gegen Scarpia ihren offenbar durch nichts zu irritierenden Wohlklang bewahren kann, darf als kleines Wunder gelten: Wer da gefürchtet hatte, die Ausflüge ins dramatische Repertoire könnten der Jahrhundertstimme etwas anhaben, darf sich getrost zurücklehnen und genießen, als ginge es um "La Boheme".

Keine Stilfragen im Ausnahmezustand

Und wer jetzt nicht ganz ungerechterweise anmerken möchte, dass Puccini nicht immer gleich Puccini ist, sei darauf verwiesen, dass auch die Netrebko noch ein paar Mal von der Engelsburg springen wird - möglicherweise nach Erschießung anderer Tenöre und unter Berücksichtigung von Fragen wie jener nach den ausdrucksmäßig geschärfteren, pikanteren, rücksichtsloseren Tönen, die man in "Tosca" hören dürfte, und die diesmal vor allem das Orchester anschlug. Aber wir hatten ja beschlossen, im Angesicht des Ausnahmezustands keine Stilfragen zu stellen. Die Staatsoper hat "Tosca" mit Anna Netrebko in die Welt geschickt. Das soll ihr heutzutage einer nachmachen!