Neuer Musikvereins-Intendant

Musik aus der Dynamik des Dialogs

Stephan Pauly. Der neue Intendant des Musikvereins über die Saison 2020/21 in Zeiten von Corona, die einzigartige Geschichte des Hauses und seine Konzepte für die Zukunft.

Was für ein Gefühl muss es sein, Herr in diesem Haus zu sein? Stephan Pauly, seit Beginn des Sommers Intendant der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, meint auf die Frage, ob er sich noch an sein erstes Musikverein-Erlebnis erinnern könne: "Das war bei mir wie bei den meisten anderen Musikfreunden auch: Ich habe das Neujahrskonzert im Fernsehen gesehen! Es war also eine virtuelle Begegnung."

Eine kostbare Situation

Es war erst in seiner Zeit am Mozarteum in Salzburg, dass Pauly den sogenannten Goldenen Saal das erste Mal in natura zu Gesicht bekam. Und das Erstaunen war groß: "Wenn ich den Raum-Eindruck beschreiben müsste, dann kann ich nur sagen: Der Saal wirkt viel, viel intimer, als man ihn sich vorstellt. Was mich am meisten beeindruckt hat: das Erlebnis, wie nah man hier an den Musikern ist. Das kann man sich gar nicht vorstellen, wenn man eine Konzert-Übertragung sieht. Es ist eine kostbare Situation."

Umso kostbarer, meint Pauly, als es sich ja immer noch um einen wirklich "großen Saal" handelt: "Er bietet ja an die 2000 Menschen Platz, die Stehplätze eingerechnet. Und dennoch fühlt man sich nicht verloren hier wie in manchen anderen Hallen mit vergleichbarer Kapazität. Das ist das ganz Besondere."

Der Manager dieses berühmtesten Konzertsaals der Welt, in dem immerhin Werke wie Brahms' Zweite und Dritte Symphonie, mehrere Bruckner-Symphonien und Mahlers Neunte zur Uraufführung gekommen sind, weiß natürlich, dass jeder berühmte Interpret, der Wien einen Besuch abstattet, jedes bedeutende Orchester auf Tournee hier auftreten möchte. Eine wienerische "Weisheit" besagt, dass der künstlerische Leiter der Gesellschaft der Musikfreunde nur die internationalen Flugpläne studieren und Ankunft und Abflug ein wenig im Blick behalten müsse.

Darauf angesprochen, lacht Pauly und meint: "Also, das beschreibt meinen Arbeitsalltag nur sehr unzureichend . . ."

Ironie beiseite gelassen, lastet auf dem Intendanten die größte Verantwortung. Was im Musikverein passiert, ist von internationaler Ausstrahlung - und es prägt das Image der Musikstadt Wien entscheidend.

So dreht sich denn, so Pauly, alles um die zentralen Fragen: "Warum spielen wir was mit wem? Wer ist prägend für unser Haus? Wie sieht unser inhaltliches Profil aus?"

Antworten darauf findet man nicht im stillen Intendanten-Kämmerlein. "Konzertmanagement", sagt Pauly, "das heißt: sehr viele Dialoge führen. Mit den Künstlern. Und mit dem Team im Haus. Ein Programm entsteht immer im Dialog. Das ist ein Prozess, den man führt." Wobei das Wort hier im doppelten Wortsinn zu verstehen sei: "Führen im Sinne von Führung - das heißt: Leitlinien zu finden, eine Richtung vorzugeben, die Verantwortung zu tragen. Aber auch im Sinne des Führens von Gesprächen: Es ist im Wesentlichen eine Moderationsaufgabe."

Das ist aber nur der eine Teil des Intendanten-Lebens. "Der andere", sagt Stephan Pauly, "ist der wirtschaftliche, der organisatorische. Da geht es um die Finanzierung, um das Geschäftsmodell, das dahintersteht."

Saisonstart in Krisenzeiten

Zum Einarbeiten hat der Neo-Intendant ein wenig Zeit. Die erste Spielzeit, die er verantwortet, hat künstlerisch ja noch sein Vorgänger, Thomas Angyan, geplant. "Das ist ein ganz normaler Vorgang", meint Pauly, "ich habe ja auch die Saison 2020/21 an der Frankfurter Alten Oper durchgeplant, bevor ich nach Wien übersiedelt bin."

Mehr als acht Jahre hat Stephan Pauly die Geschicke des wichtigsten Konzertveranstalters in der Finanzmetropole am Main geleitet. Wie im Falle der Übergabe der Amtsgeschäfte in Wien wurde auch in Frankfurt ein Saisonplan vorgestellt, von dem kein Mensch sagen konnte, ob er sich im Zuge der Pandemie so realisieren lassen würde - oder ob er vielleicht doch ganz anders umgesetzt werden muss.

Jetzt sieht es immerhin so aus, als ob auch die ehrgeizigsten Pläne für den Saisonstart im Wiener Musikverein realisiert werden könnten: Schon im September soll die Konzertserie ja mit Gastspielen zweier internationaler Spitzenorchester anheben: Die Sächsische Staatskapelle Dresden spielt zur Saisoneröffnung unter der Leitung ihres Ersten Gastdirigenten Myung-whun Chung im Großen Musikvereinssaal Dvoraks Siebente und - mit Sir Andras Schiff - das Erste Brahms-Klavierkonzert. Danach kommt Sir Antonio Pappano mit seinem Orchestra dell'Accademia Nazionale di Santa Cecilia aus Rom - mit einem coronabedingt etwas abgeänderten Programm aus Werken von Beethoven, Mendelssohn-Bartholdy, Mozart sowie (am zweiten Abend) Saint-Saens und Bizet.

Nicht zu vergessen natürlich die ersten Auftritte der Weltklasse-Orchester, die in Wien zu Hause sind: Im Oktober gibt es Konzertprogramme der Wiener Philharmoniker unter Herbert Blomstedt und Valery Gergiev. Und Andres Orozco-Estrada dirigiert als Antrittsprogramm seiner Ära als Chefdirigent der Wiener Symphoniker Joseph Haydns "Schöpfung" - wiederum dank Corona in einer leicht gekürzter Form -, natürlich mit dem hauseigenen Chor, dem Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Das ORF RSO Wien präsentiert in seinem ersten Musikvereinsprogramm der Saison - unter Chefdirigentin Marin Alsop - sogar eine österreichische Erstaufführung, die "Englischen Liebeslieder" mit dem Solisten Narek Hakhnazaryan (Violoncello).

Dass sich die Coronakrise auf die Programmplanung weniger stark auswirkt als befürchtet, freut den Intendanten : "Noch vor wenigen Wochen hätten wir das kaum zu hoffen gewagt. Es war wunderschön zu erleben, wie alle mit uns an einem Strang gezogen haben, um die besten Lösungen zu finden. Natürlich musste es Adaptionen und neue Programme dort geben, wo die geplanten Stücke logistisch nicht möglich sind, wegen Besetzungsgröße oder Spieldauer. Aber auch unter veränderten Bedingungen erwarten uns vitale, vollgültige Konzerte mit gewohnter Stimmung und Spannung, davon bin ich überzeugt."

Der Verantwortung bewusst

Das Publikum muss sich natürlich vorderhand an die Sicherheitsbestimmungen halten, die sich aber weniger störend auswirken werden, als zu vermuten wäre: "Niemand muss vorher ausführlich unser Sicherheitskonzept studieren", sagt Pauly, "Die Besucherinnen und Besucher können mit Mund-Nasen-Schutz einfach ins Haus kommen, unser Personal hilft weiter, alle gelangen über eine einfache Wegeführung zum Sitzplatz, der regelkonform im Mindestabstand zu den anderen liegt. Um in den Foyers Ansammlungen zu vermeiden, finden die Konzerte ohne Pause statt. Unser Kartenbüro hat in den letzten Wochen Enormes geleistet und alle telefonisch informiert, deren Abo-Sitzplätze sich ändern werden. Kurz: Das Publikum kann sich einfach auf die Konzerte freuen, für die Sicherheit sorgen wir."

Wie sehr sich der Pauly-Musikverein in den folgenden Spielzeiten dann von jenem des Thomas Angyan unterscheiden wird, will der Intendant freilich noch nicht sagen: "Wie gesagt, das wird sich im Dialog mit den Künstlern und unserem Team entwickeln. Und es ist noch einen Tick zu früh, da etwas zu sagen. Nur so viel: Ich bin mir der Verantwortung bewusst, die die einzigartige Geschichte der Gesellschaft der Musikfreunde bedeutet. Es gibt ja keine zweite Organisation, in der sich Musikgeschichte, Interpretationsgeschichte in solcher Dichte ereignet hat."

Beeindruckt gibt sich Pauly davon, "welche Künstler sich hier seit Jahren zu Hause fühlen. Das ist weltweit einmalig. Das bewahren zu dürfen und weiter mit Leben zu erfüllen ist eine der vornehmsten Aufgaben."

Wobei das "sich zu Hause Fühlen" naturgemäß nicht nur für die Künstler, sondern auch für das Publikum gilt. Damit das so bleibt, wird jetzt erst einmal an den Konzepten für die künftigen Musikvereinsjahre gefeilt. "Die Antwort auf die Frage nach der Zukunft wird es im Frühjahr nächsten Jahres geben, wenn wir meine erste Saison vorstellen. Nur so viel kann ich schon sagen: Diese Antwort wird vielgestaltig sein."

Vielgestaltig insofern, als Pauly "ein Panorama von Ansätzen zeigen" möchte, "die sich in den nächsten Jahren dann in aufrechter Balance zur großen Tradition des Hauses entwickeln".

In diesem Sinne streut der Intendant seinem Vorgänger Rosen, es habe ja auch Thomas Angyan - nicht erst seit dem Bau der "Neuen Säle" - das Angebot an Konzerten enorm ausgeweitet. "So etwas", sagt Pauly, "passiert ja nicht nur aus dem Willen einer Institution, sondern auch aufgrund der Nachfrage: Es ist ja Publikum da, das alle diese Konzerte füllt, das dieses immense Angebot annimmt."

Um dieses offenkundige Interesse zu befriedigen, sollen auch in Hinkunft "Konzerte der unterschiedlichsten Couleur im Musikverein stattfinden. Es geht ja nicht nur um die Gäste, die der Musik wegen nach Wien kommen, sondern zuallererst um die Menschen, die hier wohnen und die Konzerte hören möchten."

Insofern nimmt Stephan Pauly nicht nur den Dialog mit den Künstlern und seinem Team auf, sondern auch mit den Wiener Musikfreunden: "So habe ich meine Arbeit immer verstanden. Ein guter Spielplan entwickelt sich nicht aus einem Masterplan. Er entsteht aus der Dynamik dieses Dialogs."