Parsifal in Wien

"Parsifal" lotet Seelengründe aus

Staatsoper. Wenige Tage nach der Osterfestspiel-Premiere kontert Wien. Die Repertoireaufführung der Mielitz-Inszenierung gerät nicht nur musikalisch festspielreif.

Sage noch einer, es gäbe bei zeitgenössischen Inszenierungen keine Qualitätsunterschiede. Von Christine Mielitz' Wiener ,,Parsifal"- Produktion kann man in Details der Aussage, vor allem über manche ,,Anreicherung" in den Zwischenspielen und über die anarchische Schlusspointe geteilter Meinung sein. Man muss gewiss auch nicht darüber streiten, daß Stefan Mayers Bühnenbild mehrheitlich hässlich anzuschauen ist und ihm im zweiten Akt jeglicher Blumengartenzauber abgeht.

Doch erweist sich, daß die Spuren, die den handelnden Gestalten gelegt wurden, es den Darstellern ermöglichen, die Geschichte des ,,reinen Toren" zu erzählen und vor allem die Beziehungen zwischen den Figuren in aller gebotenen Dringlichkeit herauszuarbeiten. Welch ein Unterschied zwischen der jüngsten Osterfestspiel- Inszenierung in Salzburg und dem Wiener Repertoire, das schon durch diese Diskrepanz in starken Vorteil gerät. Wie beispielweise Evelyn Herlitzius als Kundry und Christopher Ventris in der Titelpartie den zweiten Akt durchleben und durchleiden, das führt den Zuschauer mitten hinein in Wagners philosophische Deutung des Gralsmythos – das heißt: an die Wurzeln existenzieller Erfahrungen des Menschseins.

Die Wandlung der enigmatischen Zeitenwanderin Kundry von der siegesgewiss lasziven Verführerin zur im Scheitern flehenden, dann auf den widerstehenden Parsifal fluchenden Jammerfigur, die jeden Halt verloren hat, gelingt mit enormer theatralischer Intensität. Die geradezu filmreife Hochspannung, die zwischen den beiden herrscht, lotet tiefer als in die Bereiche erotischer Verstrickungen.

Die tragische Größe der Ereignisse, die Wagner in seinem Bühnenweihfestspiel als Menetekel für die Krise der europäischen Zivilisation vor seinem Publikum entwickelt, wird in der laufenden Wiener ,,Parsifal"-Serie freilich auch – und vor allem – musikalisch fassbar. Was das exzellente Sängerensemble und Dirigent Franz Welser-Möst mit dem auf geradezu unglaublichem Niveau musizierenden Staatsopernorchester erreichen, überschreitet weit das gemeinhin im Opernrepertoire Denkbare.

Evelyn Herlitzius verleiht der Kundry nicht nur darstellerisch, sondern auch vokal in jedem Moment schärfstes Profil. Schon ihr Auftritt im ersten Akt, als sie wie von Furien gehetzt erscheint, aus tierhafter Wildheit jedoch jäh einer rätselhafte Müdigkeit verfallend, spiegelt sich von Ton zu Ton auch in der Stimme.

Der Sopran moduliert dann in der zentralen Szene des Mittelaktes vom samtweichen Verführungston zum haltlosen Verzweiflungslaut – Christopher Ventris kontert mit gewaltigen Ausbrüchen, ohne im entscheidenden Moment der Erkenntnis ("Amfortas, die Wunde!") auch nur annähernd forcieren zu müssen. Doch bereitet ihm auch der lyrische Grundton des Karfreitagszaubers hernach keine Mühe. Noch den Schlussmonolog singt der ganz kurzfristig für den erkrankten Jonas Kaufmann aus Amsterdam eingeflogene (!) Tenor wohlgemessen würdevoll.

Da nimmt er den edlen Tonfall des alten Gurnemanz auf, den Kwangchul Youn ungemein wohlklingend, doch in fein schattierter Wortdeutlichkeit lebendig werden lässt. Ein veritabler Belcanto-Bass im Gralsbezirk, zu dem der heftig, vielleicht hie und da zu heftig gestikulierende, grell deklamierende Amfortas von Tomasz Konieczny den hochexpressiven, in seinen Schmerzen geradezu aggressiven Widerpart bildet.

Die Leiderfahrungen des Gralskönigs wie die von dessen dämonischem Gegenspieler Klingsor (Wolfgang Bankl) reflektiert das Orchester mit entsprechend heftig auffahrenden, drastisch charakterisierenden Klängen. Doch herrscht an diesem Abend trotz aller Ausdruckswut durchwegs das Gesetz der Schönheit absolut.

Ob die emotionsgeladenen Crescendi der beiden großen Zwischenspiele oder die kantablen, weiten Steigerungsbögen des Karfreitagszaubers: Die Philharmoniker geben sich unter Welser- Möst einer Klangsinnlichkeit hin, wie sie heute – wahrscheinlich auch unter Ausklammerung jeglichen Lokalpatriotismus – singulär sein dürfte.

Der Staatsopernchor scheint beschlossen zu haben, endlich wieder den Anschluss finden zu wollen. Vor allem die Gralsritter tönen machtvoll. Die Blumenmädchen (auch die Soli) klingen im Vergleich zu den wohlig-weichen Instrumentalfarben, die im (unsichtbaren) Zaubergarten wenigstens musikalisch leuchten, noch ein wenig scharf, doch als Ensemble umgarnen sie den ratlosen Heldenbuben effektvoll genug, um auch diese Szene akustisch glaubwürdig zu machen und die im Übrigen durchwegs so packende Aufführung in die Annalen eingehen zu lassen.