Der Doyen führt die Philharmoniker auf Reisen – und demonstriert heute im Musikverein, wie scheinbar Altvertrautes enthusiasmieren kann.
Jugendlicher Elan ist keine Eigenschaft, die sich nach dem Kalender orientiert. Kein anderer Dirigent unserer Zeit ist imstande, den Adrenalinspiegel unserer Philharmoniker auf eine derartige Höhe zu putschen wie Georges Prêtre. Dem Alter nach ist der Franzose der Doyen unter den Maestri, was künstlerischen Elan betrifft, hält er die Poleposition.
An diesem Wochenende leitet Prêtre als Auftakt zu einer kurzen Tournee das traditionelle Nicolai-Konzert, mit dem die Philharmoniker alljährlich ihres Gründervaters gedenken. Energetischer als unter Prêtre haben die Philharmoniker wahrscheinlich auch unter Otto Nicolai oder anderen legendären, teils als explosiv berüchtigten Dirigenten nicht aufgespielt, von Gustav Mahler bis, sagen wir, Leonard Bernstein, um auch die eigenen Erinnerungen zu bemühen.
Jedenfalls schien sich das Wiener Publikum anläßlich der Soirée- Voraufführung am Freitagabend schon zur Pause sicher, einem besonders animiert-animierenden Konzert beiwohnen zu dürfen. "Tänzerische Bewegung" – so könnte das Motto des Programms lauten, das Prêtre gewählt hat. Schon des öfteren hat der Maître Beethovens Siebente mit Ballettmusik konfrontiert. ,,Apotheose des Tanzes" hat Richard Wagner die A-Dur-Symphonie ja genannt. Durchpulst von Bewegungsenergie in jedem Takt, in jeder Stimme schwingt sie in dieser Wiedergabe – selbst der zweite Satz ist programmgemäß ein ,,Allegretto", kein larmoyanter Trauermarsch. Was diesen Dirigenten in unseren Tagen zur Ausnahmeerscheinung macht, ist sein unbeirrbares Beharren auf dem ,,Interpreten"-Status. Die heute so gern beschworene Texttreue, die nicht selten zur völligen Lähmung, jedenfalls zu Anämie führt, entlarvt er bereits mit den ersten Tönen eines Konzertes als Schimäre. Hier wird in der langen Einleitung zum Stirnsatz bereits eine Geschichte erzählt.
Es gärt und brodelt. Da herrscht keine Wartesaalatmosphäre bis zum Einsatz der Vivace-Rhythmen in den Flöten. Da gärt und brodelt es, da kämpfen Individualitäten um ihre Rangfolge, da präsentieren sich die thematischen Elemente der Musik als lebendige Organismen, die – jeder in seinem Tempo, letztlich aber doch vom über allem waltenden Einheitspuls getaktet – ihre Energien so kraftvoll wie möglich zur Entfaltung bringen wollen. Mit einem Mal begreift der Hörer – er mag im Programmheft über Sonatensatz- und Rondoformen nachlesen – musikalische Architektur als spannenden organischen Prozess.
Diese Musik lebt. Der Dirigent fordert von den Spielern volles Engagement, fordert, daß sie sich einfühlen in die Qualität und die natürliche Ausdruckskraft der gerade gespielten Phrase, des gerade artikulierten Rhythmus. Er fordert das Aufeinanderhören, sensibles Miteinander, im entscheidenden Fall aber auch kämpferische Attacke.
Daß es dabei zu Reibungsverlusten kommt, ist nicht immer auszuschließen, denn vom metronomischen Taktschlag entfernt sich Prêtres Dirigierkunst bekanntermaßen oft weit.
Doch halten sich ungeplante Interferenzen in Grenzen. Der elektrisierende Effekt dieses wachen Musizierens infiziert zunächst die Instrumentalisten, im nächsten Augenblick dann schon das Publikum.
„Bolero" – unerhört. Es ist herrlich zu erleben, wie so viel Gestaltungswille dann nicht nur die Bilderwelten von Strawinskys ,,Feuervogel"-Suite in allen Farben schillern lässt, sondern sogar Ravels viel geschundenen ,,Bolero" in einen artistischen Drahtseilakt verwandelt. Was mechanisch abschnurren könnte und dennoch notorisch Effekt macht, gestalten die Philharmoniker – solistisch wie en masse nervig-sensibel – als von Strophe zu Strophe wieder überraschendes Psychodrama.
Immer dasselbe, ja, aber immer neu: Vor allem das vom Dirigenten mit suggestiven Gebärden jeweils über die Taktstriche hinmodellierte Gegenthema reibt sich bis zum Zerreißen spannend am vom Schlagwerk (Kompliment dem unbeirrbaren Trommler!) und den Bässen eisern festgehaltenen Metrum.
Saxophone und Posaunen beherrschen diese jazzige Phrasierungsfreizügigkeit besonders virtuos und reizen die Spannung im Auditorium damit bis zur Weißglut. Sage keiner, dergleichen geschehe ja beim ,,Bolero" von selbst. Auch Beethovens Siebente und der ,,Feuervogel" gelten ja als notorische Selbstläufer – und wie oft haben wir sie in jüngster Zeit auch nur annähernd so intensiv, so neu, so von Takt zu Takt überraschend erlebt?