Thielemann in Wien

Lieben Musiker ihre Dirigenten? Im Falle von Christian Thielemann und den Philharmonikern beantworten die Orchestermitglieder diese Frage zumindest musikalisch mit einem unüberhörbaren "Ja".

Nein, Liebe auf den ersten Blick war es nicht. Sonst wäre bereits auf den Tag genau vor 33 Jahren an der Wiener Staatsoper - auch der damalige 22. November war ein Sonntag - der Dirigent bei seinem Erscheinen im Orchestergraben mit freundlichen Blicken vonseiten der Musiker begrüßt worden: Er hatte drei Tage zuvor schon einmal dirigiert.

Doch auch diese, seine zweite Aufführung der kleinen "Cosi fan tutte"-Serie unter Christian Thielemann sollte wie eine ganz normale Repertoireaufführung über die Bühne gehen; den jungen Mann am Pult beachtete man, so weit es für den Zusammenhalt des Ganzen unbedingt nötig war. Mozart-Dienst nach Vorschrift, sozusagen.

Das ist an der Wiener Oper in aller Regel nicht das Schlechteste, was dem Publikum passieren kann. Aber zur Legendenbildung reicht es nicht aus. Thielemann, damals gerade 28, hatte einige Monate zuvor mit Verdis "Traviata" debütiert und dann zweimal "Figaros Hochzeit" dirigiert.

1989 kam er für "Cosi" wieder. Aber keiner der Orchestermusiker wäre auf die Idee gekommen, in der Direktion vorstellig zu werden, um darauf aufmerksam zu machen, dass es keine schlechte Idee wäre, diesen Künstler konsequent immer wieder einzuladen.

Was die Staatsoper betrifft, dauerte die folgende Pause fast eineinhalb Jahrzehnte. Als Thielemann 2003 die Premiere von "Tristan und Isolde" dirigierte, wurde er vom Publikum bereits mit Bravorufen empfangen, als er am Pult erschien. Die Philharmoniker hatten ihn bei Begegnungen auf dem Konzertpodium seit dem Jahr 2000 schätzen - nein, jetzt wirklich: lieben gelernt.

Vor allem mit Musik von Richard Strauss hatte er Saiten in den Musikern zum Schwingen gebracht, die lang stumm geblieben waren. Thielemann trat zu einem Zeitpunkt ins philharmonische Leben, als offenkundig geworden war, wie viel mit den prägenden Maestri der Siebziger- und Achtzigerjahre dahingegangen war: Mit Karl Böhm, Herbert von Karajan und Leonard Bernstein hatte das Orchester seine Galionsfiguren verloren. Da war mehr in Verlust gegangen als hohe Schallplatten-Verkaufszahlen.

Viel war immer davon die Rede, dass die Wiener Philharmoniker das einzige bedeutende Orchester der Welt ohne Chefdirigenten seien. Da ist aber nur so lang etwas dran, als einige wichtige Könner, die gleichzeitig auch Kenner der großen Spieltradition sein müssen, das Jahr über immer wieder zur Verfügung stehen.

Wer das Wiener Musikleben der Siebzigerjahre erlebt hat, weiß, dass einer der drei Genannten meist in der Nähe war. Böhm, Karajan und Bernstein machten ihre Aufnahmen mit den Philharmonikern, selbst wenn sie nur selten oder gar nicht an der Staatsoper aktiv waren.

Sinn für Wiener Tradition. Es hat sich später auch gezeigt, dass es wenig Sinn hat, einen berühmten Namen für die Wiener Staatsoper zu engagieren, wenn der nicht mit besagtem kapellmeisterischen Sinn für die Wiener Tradition ausgestattet ist: Seiji Ozawa war und ist ein wunderbarer Animator am Pult - auch am Pult der Wiener Philharmoniker. Ein guter Musikdirektor für die Staatsoper und damit heimlicher Chefdirigent der Philharmoniker war er nicht.

So wenig man das diesem brillanten Taktstock-Virtuosen zum Vorwurf machen durfte, so glückhaft war zu empfinden, dass mit Christian Thielemann plötzlich ein Kapellmeister gefunden war, der sich bereits das nötige Repertoire erarbeitet hatte, um handwerklich mühelos die heikelsten Partituren zu bewältigen, der aber auch genau wusste, wie viel ihm ein Traditionsorchester wie die Wiener Philharmoniker noch beibringen konnte, wenn er es kundig führte und im entscheidenden Moment vor allem - zuhörte!

Dirigenten und Störenfriede. "Spielen lassen", hieß das bei Böhm und Karajan. Das sagt sich leicht, bedarf aber des intuitiven Wissens um den Zeitpunkt, an dem dieser bestbezahlte Zuhörer im Saal wieder zum Zeichengeber werden muss.

Es geht da um Nuancen, die - oft nur mit einem Blick - gesteuert werden müssen. Viel wichtiger jene Momente, in denen der Dirigent wissen muss, dass er nur stört, wenn er eingreift.

Für Kenner diesbezüglich aufschlussreich war der Vergleich der beiden jüngsten Einstudierungen der "Frau ohne Schatten": Wie viel Strauss-Glück hatte der berühmte Giuseppe Sinopoli anlässlich der Premiere 1999 durch Überbetreuung zerstört, zerdirigiert. Wie viel ist zuletzt unter Christian Thielemann aufgeblüht, wie es seit Karl Böhm nicht mehr aufgeblüht war.

Ein guter Dirigent? Wer wirklich einer ist, entscheidet sich oft in Zehntelsekunden. In jenem ersten Übergang in Strauss' "Heldenleben", in dem die Musik vom heroischen Es-Dur-Beginn sich nach atemberaubendem freien akustischen Fall plötzlich - und pianissimo - in H-Dur wiederfindet. Das muss man geschehen lassen; Thielemann ließ es geschehen - und das Orchester war wie verwandelt: Endlich war da einer, der begriff, was so lang gefehlt hatte.

Seither ist Thielemann spürbar der deklarierte Lieblingsdirigent vieler Philharmoniker, vieler Wiener Musikfreunde und jedenfalls der Mann, der dieses Orchester konsequent wieder auf ein Spielniveau zu führen wusste, das verloren schien.

Dass die Musiker ihn ausgewählt haben, um erstmals in der Orchestergeschichte mit ein und demselben Dirigenten alle Symphonien Anton Bruckners aufzunehmen, war wohl die längst fällige, die offizielle Liebeserklärung. Die aktuelle Krise wird hoffentlich nicht verhindern können, dass der Zyklus dieser Tage mit der Aufnahme der Dritten Symphonie fortgesetzt werden kann.

Das Publikum wird sich schweren Herzens, aber doch wohl auch via Livestream begeistern lassen . . .